Exodus: Fotografien von Sebastião Salgado
Lassen wir einen guten Teil der Humanität hinter uns?
Immer wieder werden in der Kunsthalle Erfurt international wichtige Positionen der dokumentierenden Autorenfotografie vorgestellt, insbesondere Positionen der humanistischen, engagierten Fotografie. So ist auch die erste Ausstellung nach der Teilmodernisierung dem Schaffen des berühmten Fotografen Sebastião Salgado (*1944) gewidmet. Über 170 Schwarzweißfotografien aus der Werkgruppe Exodus hat Lélia Wanick Salgado, Kuratorin der Pariser Agentur Amazonas images, dafür zusammengestellt: Bilder von Flüchtlingen und Migranten weltweit – aus Reportagen, die Sebastião Salgado in den 1990er Jahren schuf, bevor er sich seinem neuen Projekt Genesis zuwandte.
Weltweite Migration prägte das 19. und das 20. Jahrhundert nachhaltig und gehört bis heute zu den wichtigsten Problemen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Nicht zuletzt ist die Bewältigung der jüngsten Flüchtlingsströme eine Herausforderung, die auch die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu spalten droht. Die neue Kunstausstellung, organisiert in Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Kunstdienst Erfurt e. V., versteht sich als Beitrag im dazu geführten Diskurs.
Verwerfung globalen Ausmaßes: Ausstellung unter Schirmherrschaft von Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen
Jahr für Jahr Armut, Naturkatastrophen, Gewalt und Krieg
Es ist beinahe eine Generation her, seit diese Fotografien zum ersten Mal ausgestellt wurden, und doch hat sich die in ihnen porträtierte Welt nur wenig verändert, weil Jahr für Jahr Armut, Naturkatastrophen, Gewalt und Krieg Millionen von Menschen dazu treiben, ihre Heimat zu verlassen. Mitunter bleibt ihnen nur die Zuflucht in Flüchtlingslagern, die gleichsam über Nacht zu kleinen Städten anwachsen; in anderen Fällen setzen sie ihre Sicherheit und ihr Leben für den Traum von einem gleichsam mythischen Gelobten Land aufs Spiel. Die Flüchtlinge und Migranten heute scheinen das Produkt aktueller Krisen zu sein, doch die in ihre Gesichter eingeschriebene Verzweiflung wie auch die darin aufschimmernde Hoffnung unterscheiden sich kaum von jenen, die in diesen Fotografien dokumentiert sind.
Eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen arm und reich
Beinahe alles, was auf der Welt geschieht, ist irgendwie miteinander verbunden. Wir alle sind betroffen von der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen arm und reich, von der globalen Überbevölkerung, von den Folgen der industriellen Nahrungsmittelproduktion und der Umweltzerstörung, von Scheinheiligkeit und Fanatismus im Dienst politischer Ziele. Die aus ihrer Heimat verstoßenen Menschen sind lediglich die sichtbarsten Opfer einer Verwerfung globalen Ausmaßes.
Lassen wir einen guten Teil der Humanität hinter uns?
Die Fotografien in dieser Ausstellung fangen tragische, dramatische und heroische Momente individuellen Lebens ein. Doch in der Gesamtschau, als Ganzes, erzählen sie alle eine Geschichte unserer Gegenwart. Sie liefern keine Antworten, sondern werfen letztlich eine Frage auf: Lassen wir in der Art, wie wir in die Zukunft schreiten, zugleich einen guten Teil der Humanität hinter uns?
Biografie des Künstlers
Salgado verfasste eine wirtschaftswissenschaftliche Dissertation
Sebastião Ribeiro Salgado wird am 8. Februar 1944 in Aimorés, Brasilien, geboren und wächst auf der Farm seiner Eltern auf. Bis 1967 studiert er an der Universität in São Paulo und heiratet im selben Jahr die Pianistin Lélia Deluiz Wanick. Beide engagieren sich in der linken Bewegung gegen die Militärdiktatur und emigrieren 1969 nach Paris. Dort verfasst Salgado eine wirtschaftswissenschaftliche Dissertation, während seine Frau Architektur studiert. Als Angestellter der Internationalen Kaffeeorganisation in London reist Salgado häufig nach Afrika und beginnt, mit der Leica-Kamera seiner Frau zu fotografieren. 1973 macht er sich als Fotojournalist selbstständig, arbeitet für verschiedene Agenturen und lebt wieder in Paris.
Künstler dokumentiert menschliche Würde
Salgado bekennt sich zur Tradition der sozialdokumentarischen, humanistischen Fotografie und wird 1979 Mitglied der angesehenen Fotografenagentur Magnum Photos. 1994 gründet er seine eigene Agentur Amazonas images. In selbstgewählten Langzeitprojekten dokumentiert er mittels Schwarz-Weiß-Fotografien das Leben von Menschen am Rande der Gesellschaft, akzentuiert ihre prekäre Situation, aber ebenso ihre menschliche Würde. Berühmt ist seine Fotoreportage von 1986 über Goldschürfer in der brasilianischen Goldmine Serra Pelada und die Dokumentation von Löscharbeiten der im Zweiten Golfkrieg 1991 von irakischen Truppen in Brand gesetzten Ölquellen in Kuweit. In den 1990er Jahren fotografiert er weltweit Phänomene der Migration und veröffentlicht die Resultate in dem Band Exodus. Seit 2004 arbeitete Salgado am Projekt Genesis.