1 00:00:14,700 --> 00:00:18,510 Das Angermuseum Erfurt zeigt in diesem Herbst eine 2 00:00:18,510 --> 00:00:23,700 Ausstellung Volker Stelzmanns Bilder, Gemälde, Zeichnungen, 3 00:00:23,700 --> 00:00:28,070 Druckgrafiken mit dem Titel „Stadt – Werkstatt”. 4 00:00:28,710 --> 00:00:32,520 Beide Begriffe zeigen die Grundorientierung von Volker 5 00:00:32,520 --> 00:00:34,530 Stelzmann, der auf der einen Seite ein sehr genauer 6 00:00:34,530 --> 00:00:37,020 Beobachter, ein Zeitgenosse ist. 7 00:00:37,080 --> 00:00:40,380 Ein Beobachter der Menschen, wie wir sie heute auf den Straßen 8 00:00:40,380 --> 00:00:43,590 sehen, in den Städten, aber auch in den Medien. 9 00:00:44,440 --> 00:00:47,100 Und gleichzeitig ist er jemand, der sich immer wieder in die 10 00:00:47,100 --> 00:00:51,450 Werkstatt zurückzieht und dort eher den Dialog mit den 11 00:00:51,750 --> 00:00:57,180 Klassikern seines Fachs pflegt. Mit der klassischen Moderne, mit 12 00:00:57,210 --> 00:01:00,990 Malern der Neuen Sachlichkeit, mit Malern der Dezisionismus, 13 00:01:00,990 --> 00:01:04,920 aber vor allen Dingen auch mit Malern, von der Gotik über die 14 00:01:04,920 --> 00:01:06,566 Renaissance bis zum Barock. 15 00:01:07,680 --> 00:01:13,500 Das prägt sein Schaffen, seit er in Leipzig an der Hochschule für 16 00:01:13,500 --> 00:01:19,050 Grafik und Buchkunst studierte und dort sein Diplom machte. 17 00:01:19,710 --> 00:01:22,770 Das ist in der zweiten Hälfte der 70er Jahre gewesen. 18 00:01:23,040 --> 00:01:26,010 Das Bild, das ich heute etwas genauer vorstellen will, 19 00:01:26,020 --> 00:01:31,680 „Kreuzabnahme I.“ eins heißt es, wurde 1978/79 geschaffen. 20 00:01:32,220 --> 00:01:37,800 Es zeigt eine Kreuzabnahme und das als 21 00:01:37,800 --> 00:01:44,820 ein Bild, das eigentlich sozialistische Menschen zeigen soll. 22 00:01:45,120 --> 00:01:50,760 Das ist sehr ungewöhnlich und es bedarf der genaueren Erläuterung. Zum einen: 23 00:01:50,880 --> 00:01:52,170 Es ist ein sakrales Thema. 24 00:01:52,200 --> 00:01:54,470 Es ist ein Thema der christlichen Ikonographie, so 25 00:01:54,480 --> 00:01:58,380 wie die Kreuzigung, die Kreuzabnahme, aber auch die Auferstehung. 26 00:01:58,410 --> 00:02:02,070 Eine Auferstehung haben wir zum Beispiel hier, 27 00:02:02,190 --> 00:02:08,970 „Risurrezione“ genannt, also mit dem italienischen Titel hier behaftet. 28 00:02:09,570 --> 00:02:15,420 Die Kreuzabnahme ist eine säkularisierte Szene, denn 29 00:02:15,540 --> 00:02:20,130 dieses Bild war nie gemalt für die kirchliche Andacht, für die 30 00:02:20,130 --> 00:02:24,090 christliche Andacht, für gottesdienstliche Zusammenhänge, 31 00:02:24,090 --> 00:02:28,050 sondern es war immer schon gemalt für den Gebrauch 32 00:02:28,050 --> 00:02:32,250 innerhalb von Museen, Galerien, also innerhalb der Kunst. 33 00:02:34,890 --> 00:02:38,490 Volker Stelzmann hat sehr bewusst in dieser Zeit ein 34 00:02:38,490 --> 00:02:40,830 christliches Sujet gewählt. 35 00:02:40,860 --> 00:02:43,650 Diese Kreuzabnahme und gleichzeitig hat er dieses 36 00:02:43,650 --> 00:02:46,110 Sujet in seine Gegenwart geholt. 37 00:02:46,140 --> 00:02:49,260 Wir können an der Kleidung einiger der Protagonisten dieser 38 00:02:49,260 --> 00:02:52,680 Kreuzabnahme sehen, dass es sich um die zweite Hälfte der 39 00:02:52,890 --> 00:02:54,450 der 70er Jahre handelt. 40 00:02:55,530 --> 00:03:00,910 Wir können gleichzeitig sehen, dass es eine sehr robuste Situation ist. 41 00:03:00,930 --> 00:03:02,550 Drei Kreuze können wir sehen. 42 00:03:02,790 --> 00:03:05,820 Die Situation spielt auf Golgatha bei Jerusalem. 43 00:03:06,750 --> 00:03:11,490 Wir haben jemanden, der dem gekreuzigten Christus die Nägel zieht. 44 00:03:11,530 --> 00:03:15,000 Dabei hat er einen Werkzeugkasten dabei, einen 45 00:03:15,000 --> 00:03:19,450 Eimer und eine große Zange. 46 00:03:19,480 --> 00:03:21,690 Und mit dieser Zange will er diesen Nagel rausziehen. 47 00:03:21,750 --> 00:03:25,170 Also eine sehr brutale Situation eigentlich, die hier gezeigt 48 00:03:25,170 --> 00:03:30,810 wird und gleichzeitig auch eine Situation der Anteilnahme, der Trauer. 49 00:03:32,460 --> 00:03:36,450 Gleichzeitig sind die Leute aber auch beschäftigt, so wie sie 50 00:03:36,690 --> 00:03:40,890 anderen Beschäftigungen auch nachgehen, auf dem Bau oder wo immer. 51 00:03:40,890 --> 00:03:46,050 Und der eine, der auf die Leiter gestiegen ist, zeigt den Daumen 52 00:03:46,050 --> 00:03:49,290 und will damit sagen: Alles geht seinen Gang. 53 00:03:49,320 --> 00:03:50,550 Alles ist in Ordnung. 54 00:03:50,580 --> 00:03:55,380 Unten wartet jemand auf den toten Christus, der 55 00:03:55,380 --> 00:03:58,200 abgenommen wird und hält das Leichentuch bereit. 56 00:03:58,470 --> 00:04:03,030 Im Hintergrund sehen wir übrigens eine Stadt, ein Automobil. 57 00:04:03,090 --> 00:04:05,490 Also ganz klar die Verortung in der Gegenwart. 58 00:04:05,700 --> 00:04:09,780 Aber davor wiederum einen Hirten mit Schafen. 59 00:04:09,930 --> 00:04:12,480 Auch das wieder ein christologisches Motiv. 60 00:04:12,870 --> 00:04:16,440 Und bei dem Leichentuch sehen wir im Hintergrund auch noch 61 00:04:16,650 --> 00:04:17,940 Ritter, Tod und Teufel. 62 00:04:18,120 --> 00:04:22,080 Das ist eine Szene, die wir aus Dürers Druckgrafik sehr gut kennen. 63 00:04:22,410 --> 00:04:25,710 Also ein sehr anspielungsreiches Bild. 64 00:04:25,710 --> 00:04:31,500 Ein Bild, das damit rechnet, dass wir wissen, woher die 65 00:04:31,500 --> 00:04:32,910 Traditionsbezüge kommen. 66 00:04:33,120 --> 00:04:35,280 Wenn wir uns den Christus anschauen, dann sehen wir vor 67 00:04:35,280 --> 00:04:37,860 allen Dingen Bezüge zu Matthias Grünewald. 68 00:04:38,430 --> 00:04:42,120 Matthias Grünewald war für Stelzmann nicht direkt 69 00:04:42,120 --> 00:04:46,020 und sofort ein besonders wichtiger Künstler, sondern über 70 00:04:46,020 --> 00:04:47,640 die Rezeption von Otto Dix. 71 00:04:48,000 --> 00:04:52,230 Zuerst hat sich, Stelzmann an Otto Dix sehr stark orientiert, 72 00:04:52,230 --> 00:04:55,290 an seinen neu sachlichen Porträts, später aber auch immer 73 00:04:55,290 --> 00:05:01,260 mehr an dem, was Otto Dix in den 30er Jahren gezeigt hat, nämlich 74 00:05:01,440 --> 00:05:06,090 eine Rezeption der sogenannten Donauschule, Albrecht Altdorf, 75 00:05:06,090 --> 00:05:10,470 Grünewald und dergleichen und damit einhergehend ein sehr, 76 00:05:10,595 --> 00:05:15,005 veristischer, ein sezierender, ein harter Realismus oder Volker 77 00:05:15,030 --> 00:05:19,950 Stelzmann sagt ein trockener Realismus, den er bevorzugt. 78 00:05:19,980 --> 00:05:23,370 Stelzmann hat sich übrigens in der Figur, die da oben auf der 79 00:05:23,370 --> 00:05:27,420 Leiter steht und dieses Zeichen macht, selbst in diese 80 00:05:27,420 --> 00:05:29,160 Komposition hinein gemalt. 81 00:05:29,850 --> 00:05:35,160 Auch das ist eine Referenz an sehr viele Renaissancekünstler, 82 00:05:35,160 --> 00:05:38,520 beginnend mit Botticelli, also mit verschiedenen italienischen 83 00:05:38,520 --> 00:05:42,600 Renaissancekünstlern, die sich in bestimmte Szenen des 84 00:05:42,720 --> 00:05:49,620 heiligen Lebens als Referenzfiguren, als Beifiguren mit 85 00:05:49,620 --> 00:05:50,980 hinein gemalt haben. 86 00:05:51,210 --> 00:05:57,090 Gleichzeitig Bekenntnis ausdrückend aber auch ein 87 00:05:57,090 --> 00:06:01,020 Zeichen dafür, dass sie Anteil nehmen an dieser Situation. 88 00:06:01,320 --> 00:06:04,200 Das Bild hat eine bewegte Geschichte. 89 00:06:04,440 --> 00:06:08,670 Es wurde, kurz nachdem es gemalt wurde, auf einer der Leipziger 90 00:06:08,670 --> 00:06:10,500 Bezirks-Kunstausstellung gezeigt. 91 00:06:10,680 --> 00:06:17,040 Dort wurde es heftig kritisiert, weil es eben kein erwartetes 92 00:06:17,100 --> 00:06:20,010 sozialistisches Menschenbild gestaltete, sondern ein 93 00:06:20,010 --> 00:06:24,780 überzeitliches, ein allgemeines, ein universelles Menschenbild im 94 00:06:24,780 --> 00:06:26,910 Gewand der christlichen Ikonographie. 95 00:06:28,410 --> 00:06:33,180 Gleichzeitig wurde dieses Bild also trotz aller Kritik wurde es begehrt. 96 00:06:33,240 --> 00:06:37,620 Peter Ludwig, der damals als Sammler aus Westdeutschland 97 00:06:37,620 --> 00:06:41,070 kommend in der DDR unterwegs war, interessierte sich für das 98 00:06:41,070 --> 00:06:42,390 Bild, wollte es kaufen. 99 00:06:42,690 --> 00:06:45,570 Die Kulturfunktionäre in Leipzig wollten es ihm aber nicht 100 00:06:45,570 --> 00:06:48,810 verkaufen, weil sie nicht wollten, dass dieses Bild als 101 00:06:48,810 --> 00:06:50,880 ein wirklich sehr repräsentatives und 102 00:06:50,880 --> 00:06:53,580 großformatiges Bild in der Sammlung Ludwig in 103 00:06:53,580 --> 00:06:55,500 Westdeutschland präsent wäre. 104 00:06:55,950 --> 00:06:58,410 Schließlich hat es Ludwig aber dann doch gekauft. 105 00:06:58,650 --> 00:07:03,990 Es wurde im Ludwig-Institut für DDR-Kunst in Oberhausen, im 106 00:07:03,990 --> 00:07:08,490 Schloss Oberhausen gesammelt, bewahrt und immer wieder auch ausgestellt. 107 00:07:08,490 --> 00:07:14,130 Aber in den zweitausender Jahren, als ein Generationenwechsel in 108 00:07:14,130 --> 00:07:19,140 Oberhausen stattfand, erklärten die dortigen verantwortlichen 109 00:07:19,140 --> 00:07:23,400 Kuratoren, dass sie mit der Sammlung von DDR-Kunst aus der 110 00:07:23,400 --> 00:07:26,820 Stiftung Ludwig eigentlich nichts anfangen konnten. 111 00:07:27,030 --> 00:07:31,320 Zu verschieden war die Erzählung über das 20. Jahrhundert, über 112 00:07:31,320 --> 00:07:33,240 die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. 113 00:07:34,080 --> 00:07:39,140 Die westdeutsch und westeuropäisch geprägt war zudem, was dieser 114 00:07:40,250 --> 00:07:45,740 Bestand an Bildern, an figürlicher Malerei aus der DDR verkörperte. 115 00:07:45,980 --> 00:07:51,230 Also ging dieser Bestand, dieses Konvolut geschlossen wieder nach 116 00:07:51,410 --> 00:07:56,270 Leipzig zurück, wo es heute auch bewahrt wird und wo wir es für 117 00:07:56,585 --> 00:07:58,990 diese Ausstellung ausgeliehen haben.